VI. Internationaler Kongress für Pietismusforschung 2022 „Reisen und Religion im langen 18. Jahrhundert“ (Teil 2)

VI. Internationaler Kongress für Pietismusforschung 2022 „Reisen und Religion im langen 18. Jahrhundert“ (Teil 2)

Organisatoren
Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Franckesche Stiftungen zu Halle; Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.08.2022 - 31.08.2022
Von
Florian Jungmann, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Daniel Haas, Universität Hamburg; Gabriele Carlo Bellinzona, Universität Hamburg

Zum 1. Teil des Berichts: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-134231

Die Vorträge der Sektion E verband der Fokus auf das Scheitern von Reisen durch staatliches Eingreifen. So schilderte OTTO TEIGELER (Düsseldorf) die Bemühungen des Grafenpaares Zinzendorf um eine Etablierung der Herrnhuter Brüdergemeine im russischen Zarenreich gegen den Willen der Obrigkeit. Trotz zumeist guter Reisevorbereitungen gelang es den Herrnhutern nicht, unerkannt zu bleiben und die erhofften Ziele zu erreichen, was mitunter schwere Konsequenzen für die reisenden Personen hatte. CORINNA KIRSCHSTEIN (Wien) widmete ihren Vortrag sozialen Gruppen, welche sich durch eine hohe Mobilität auszeichneten, aber zunehmend Reglementierung und Diskriminierung erfuhren. Mobilität entwickelte sich demnach durch religiöse Moralisierung im Laufe der frühen Neuzeit zu einem Diskriminierungsmerkmal. JULIAN LAHNER (Bozen) lieferte mit dem durch die josephinischen Reformen zum Ex-Mönch gewordenen Philipp Nerius Purl ein konkretes Beispiel für die obrigkeitliche Einschränkung von Reisefreiheit. Im Zuge der Staatsreformen war Purls Heimatkloster säkularisiert worden, was ihn wie viele andere ehemalige Geistliche zu Kritikern der ‚großen‘ Politik machte. Das weitestgehend folgenlose Vorgehen der Obrigkeit deutete Lahner dabei als Symptom einer gescheiterten kaiserlichen Politik.

Gleich zwei Sektionen behandelten die Materialität pietistischen Reisens. In Sektion F gingen sowohl STEFANO SARACINO (Jena/München) und DANIEL HAAS (Hamburg) auf die Bewegung von Objekten zwischen Halle und dem Osmanischen Reich ein. Saracino thematisierte die materielle Ausstattung eines Außenpostens des hallischen Pietismus in Konstantinopel am Beginn des 18. Jahrhunderts und die Versuche, mit eigenen Medikamenten Eingang in die osmanische Hauptstadt zu finden. Darüber hinaus blickte er auf das Gepäck des mit Halle verbundenen Reisenden Johann Friedrich Bachstrohm, welcher sich um 1730 in Konstantinopel aufhielt. Haas spürte in der Kunst- und Naturalienkammer der heutigen Franckeschen Stiftungen Gegenstände auf, die Missionar Stephan Schultz von seiner Reise in das Osmanische Reich mit nach Halle brachte. Nach dessen Tod sind diese Objekte wahrscheinlich in die „Wunderkammer“ gelangt.

Ausgehend von der eröffnenden Feststellung von Kim Siebenhüner, dass Gegenstände wichtig für das physische und spirituelle Wohlbefinden von Reisenden waren, standen Logistik und Planung, insbesondere Gepäck im Zentrum von Sektion G. Mit Beispielen aus der pietistischen Indienmission verdeutlichte ULRIKE GLEIXNER (Wolfenbüttel), dass Missionare detaillierte Listen über mitzunehmendes Material wie Kleidung, Verpflegung, Büroartikel und Medikamente führten. Sie hob den Wert dieser Listen als Wissensspeicher für die Forschung hervor. Diese Bedeutung wurde auch in den folgenden Vorträgen illustriert. So stellte NADINE AMSLER (Bern) Packlisten zweier jesuitischer China-Missionare des 17. Jahrhunderts vor: Philippe Couplet und Petrus-Thomas Van Hamme. Gerade die Prokuratoren der katholischen Mission seien zentral für den Transfer von Gütern zwischen China und Europa gewesen. Güterbewegungen gab es dabei explizit in beide Richtungen. Während Amsler ihren Fokus auf das Gepäck einzelner reisender Missionare legte, untersuchte FELICITA TRAMONTANA (Rom) die Materialbewegungen einer ganzen Gemeinschaft, nämlich der Franziskaner in Palästina. Diese wurden mehrmals im Jahr mit diversen Gütern aus Europa versorgt, darunter Rohstoffe zur Herstellung von Medikamenten, Bücher, Geschirr und sogar Lebensmittel. Hierzu war eine entsprechende Infrastruktur notwendig. CAROLIN SACHS (Göttingen) ging in ihrem Beitrag auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von konfessionell ausgerichteten Apodemiken des 18. Jahrhundert ein. Trotz aller potenziellen Konflikte stand der Verzicht auf die Begegnung mit anderen Konfessionen selten zur Debatte. Vielmehr wurde die Schulung einer interkonfessionellen (Reise-)Kompetenz als ein wesentlicher Bestandteil einer Grand Tour angesehen. Dementsprechend legten die Autoren der Reiseratgeber Wert auf die Sensibilisierung für konfessionelle Unterschiede. PETER VOGT (Herrnhut) warf in seinem Vortrag den Blick auf die Seite der Gastgeber und die Herausforderungen in der angemessenen Bewirtung der Reisenden. Von Beginn an war für die Herrnhuter Brüdergemeine die Versorgung von Reisenden ein Thema, wobei dem eingeforderten Ideal einer „christlichen Schenke“ Gast oder Wirt nicht immer entsprachen. Anhand der Instruktionen der Kirchenleitung vollzog Vogt einen internationalen Ausblick auf andere Niederlassungen der Herrnhuter Brüdergemeinen und deren Realisierung eines Gasthofs.

Die Sektion H fokussierte vor allem auf Reisen zur Gruppenbildung, -integration und -abgrenzung im europäischen Raum. Die Suche nach und Kontaktpflege mit religiösen Gleichgesinnten war ein Kernanliegen von Reisen im 18. Jahrhundert. Doch kam es unterwegs gleichfalls immer wieder zu Kontakten mit dem religiös Anderen. Strategien im Umgang mit Andersdenkenden veranschaulichte ALEXANDER SCHUNKA (Berlin) anhand von Akteuren des hallischen Frühpietismus. So waren Kontaktvermeidung durch Rückzug in eine Beschäftigung wie das Lesen, die Dissimulation und behutsame Annäherung oder die unverstellte Erbauung von Mitreisenden gängige Verhaltensweisen. THOMAS K. KUHN (Greifswald) wiederum referierte über Reiseberichte von Schweizer Pietisten, welche als Lehrer und Begleiter auf Kavalierstouren junger Herren wirkten. Die Rechtfertigungsberichte für die auftraggebenden Familien geben dabei Einblick in die Vernetzung der eidgenössischen Frommen. RUTH ALBRECHT (Hamburg) weitete die Perspektive der Sektion auf das 19. Jahrhundert, indem sie die Reisen des Pastors Dollmann als zentrale Figur der Hamburger Judenmission in Wansbek in den Blick nahm. Die in den 1820ern in der Hansestadt gegründete Filiale der Londoner Gesellschaft konnte trotz aktiver Werbung und Vernetzung jedoch keine quantitativen Erfolge erzielen.

Sektion I mit einem Schwerpunkt auf Asien wurde durch den Vortrag von FRED VAN LIEBURG (Amsterdam) eröffnet. Dabei wurde die Rolle der niederländischen Handelsgesellschaft in Asien zur Schaffung einer permanenten Anwesenheit von Seelsorgern in Übersee untersucht. So versuchte van Lieburg darzustellen, welche Beziehungen zwischen den hallischen Missionsanstalten und den niederländischen Geistlichen bestanden, speziell mit Blick auf die theologische Aus- und Weiterbildung für den Missionsdienst. Im Anschluss gewährte BENNO HERR (Frankfurt am Main) einen Einblick in sein Dissertationsprojekt. In seinem Beitrag untersuchte Herr den geistlichen Werdegang des mehrfach konvertierten Joseph Wolff. Als in Deutschland geborener Jude ließ dieser sich im katholischen Glauben taufen, bevor er 1819 nach England flüchtete und als protestantischer Missionar tätig war. Seine Missionsreise führte ihn nach Palästina, Persien, Zentralasien und Indien, wobei er zahlreiche Reiseberichte verfasste. In seiner Analyse ging Herr der Frage nach, inwieweit das Judentum für Wolffs Glaubens- und Missionsverständnis von Bedeutung gewesen ist. Anknüpfend an das Thema „Missionsreise“ stellte GIULIA SPECIALE (Wuppertal) die Aktivitäten der Rheinischen Missionsgesellschaft auf Borneo im 19. Jahrhundert dar. Dabei ging es einerseits um die Anfänge der Mission, andererseits um die lokalen Missionsbestrebungen auf der Insel. Exemplarisch lieferte Speciale Einblicke in die Zustände auf den Schiffen und die sprachlichen wie kulturellen Herausforderungen der Missionare. Das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen beleuchtete im Anschluss CATHARINA WENZEL (Frankfurt am Main). Sie stellte das Forschungsprojekt „Christian-Muslim Relations“ vor, welches sie in Zusammenarbeit mit der Universität Birmingham betreut. Der Untersuchungszeitraum für die interreligiösen Kontakte bezieht sich in der zweiten Projektphase auf das 19. Jahrhundert. Forschungsgegenstand sind Missionsberichte, welche aus dem protestantischen Milieu Deutschlands stammen. Inhaltlich beobachtete Wenzel in den Quellen eine andere Wahrnehmung des Islams, in welcher dieser aus ethischer und/oder fortschrittstheoretischer Perspektive beurteilt und wahrgenommen wurde. Den Abschluss der Sektion bildete der Vortrag von SABINE WOLSINK (Wien). Ihre Ausführungen bezogen sich auf den hallischen Theologen August Tholuck und dessen Affinität zum Orient. Dabei fokussierte sie sich auf die Frage, welche Bedeutung und Funktion Tholucks Begeisterung für den Orient in seinem Denken einnahm, speziell seine Rezeption des Sufismus.

In Sektion K wurde der Frage nach „Wirklichkeit und Imagination“ auf tatsächlich ausgeführten wie auch imaginierten, inneren Reisen nachgegangen. JONATHAN STROM (Atlanta, GA, USA) trug zu der Bedeutung von Reisen für das Bekehrungsnarrativ von Pietist:innen vor. URBAN CLAESSON (Uppsala, Schweden) zeichnete anhand der Editions- und Rezeptionsgeschichte der schwedischen Übersetzung von Luthers Kleinem Katechismus die kirchliche Entwicklung Schwedens nach, wobei er besonders auf die ordo salutis und die die pietistischen Einflüsse aus dem deutschsprachigen Raum einging. Auf eine weitere innere Reise führte JAN STIEVERMANN (Heidelberg) mit der Vorlesung August Hermann Franckes zum neuenglischen Theologen Cotton Mather aus dem Jahr 1724. So zeigen die studentischen Mitschriften, dass über die eigentliche Korrespondenz mit Boston hinaus eine transatlantische Interessens- und Glaubensgemeinschaft in Halle imaginiert wurde. HOLGER ZAUNSTÖCK (Halle) dagegen präsentierte mit den Instruktionen für Herumführer in den Glauchaschen Anstalten von 1741 ein Instrument der Imagepflege. Gäste, welche die Schulstadt besuchten, sollten geleitet durch geschultes Personal förmlich eine „Reise durch das Land der Providenz“ vollziehen, wofür in den Instruktionen eine normative Konstruktion dieses Ideals wie auch eine konkrete Verhaltensanleitung für die Herumführer entworfen wurde.

Die Sektion M eröffnete FREDERIKE MIDDELHOF (Frankfurt am Main) mit einem Vortrag über Glaubensflüchtlinge in der Literatur der Romantik, wobei der thematische Fokus auf Flucht und Verbannung im Kontext der französischen Revolution lag. CHRISTOPH SCHMITT-MAAß (München/Oxford) fokussierte in seinem Beitrag das Zimmer als Reisemetapher in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts und untersuchte, wie der Raum als Entfremdungsinstrument wahrgenommen wurde. Zudem betrachtete er dieselbe Thematik unter dem Aspekt der Reaktion auf die politischen Ereignisse im Zeitalter der Französischen Revolution. THEA SULMAVICO (Halle) stellte in ihrem Vortrag die Mechanismen antikatholischer Polemik an Hand der Berichte Friedrich Nicolais über seine „Reise durch Deutschland und in die Schweiz, im Jahre 1781“ vor. Durch die Beschreibung von Wallfahrtsorten, Frömmigkeitspraktiken und Klosterleben gelang es Nicolai, Protestantismus mit Aufklärung sowie Katholizismus mit Aberglauben beziehungsweise Rückständigkeit gleichzusetzen. Den Abschluss dieser Sektion bildete der Vortrag von STEFAN BORCHERS (Halle), der eine detaillierte Darstellung der Reise des infolge seiner berühmten „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ (1721) aus Halle vertriebenen Christian Wolff lieferte. Er zeigte sowohl die Gefahren einer Glorifizierung Wolffs als auch einer Diffamierung durch dessen Gegner basierend auf der Vertreibungserzählung auf.

Forschungsmethoden aus den Digitalen Geisteswissenschaften haben auch in der Pietismusforschung Eingang gefunden. Aus dem digitalen Editionsprojekt „Moravians at Sea“ der Universität Jena, einem „Portal zur Erkundung Herrnhuter Seereisen des 18. Jahrhunderts“, berichteten die Vortragenden in Sektion N. GISELA METTELE (Jena) eröffnete die Sektion mit Ausführungen über die Bedeutung von Seereisen bei der Herrnhuter Brüdergemeine. Diese seien eine selbstverständliche Praktik gewesen, die für die Reisenden eine eindringliche körperliche und soziale Erfahrung sowie auch eine intensive Begegnung mit der Natur dargestellt hätten. Auch auf See praktizierten die Mitglieder ihr Gemeindeleben. Nachfolgend erläuterte MARTIN PRELL (Weimar/Jena) technische Aspekte des Projekts und stellte die Internetseite vor.1 Durch chronotopische Visualisierungen werde versucht, die räumliche und zeitliche Dimension der Seereisen zu verdeutlichen. Bisher habe das Portal aber noch „Laborcharakter“. Es soll zukünftig durch weitere Funktionen und die Vernetzung mit anderen Datenquellen weiter aufgewertet werden.

Ein weiteres Digitalprojekt stellten THOMAS GRUNEWALD und PAUL PHILIPP BECKUS (beide Halle) in Sektion O zu Bildungsreisen vor. Grunewald ging auf die technischen und methodischen Fragen des ebenfalls an der Universität Jena angesiedelten digitalen Editionsprojekts „Der Graf auf Reisen. Netzwerke und männliche Weltbildung im 18. Jahrhundert“ ein.2 Beckus fokussierte hingegen in seinem Vortrag den interkonfessionellen Austausch in Paris und den Einfluss pietistischer Ideale auf der Grand Tour (1740–42) des Grafen Heinrich XI. Reuss und seines Hofmeisters Anton von Geusau. Mit Graf Heinrich Ernst Stolberg-Wernigerode untersuchte JAN MARTIN LIES (Mainz) einen weiteren reisenden Vertreter des mitteldeutschen Hochadels. Die 1738 durchgeführte Reise deutete Lies im Sinne einer community of practice als Einführung in gleich zwei exklusive Kreise, nämlich Hochadel und Pietisten. Die Reiseroute wie auch der vom Wernigeröder Hofprediger Samuel Lau verfasste Reisebericht weisen daher maßgeblich von klassischen Kavalierstouren abweichende Stationen und Merkmale auf.

Fazit

Nach den pandemiebedingten Reisebeschränkungen bot der VI. Internationale Kongress für Pietismusforschung viele neue Perspektiven auf das (religiöse) Reisen im langen 18. Jahrhundert. So begrüßte Ulrike Gleixner in der Abschlussdiskussion die Weitung des Blicks über die gängigen Regionen, Themen und Disziplinen der Pietismusforschung hinaus. Die Selbstverständlichkeit des langwierigen Reisens bestätigten die vielen praxeologisch ausgerichteten Vorträge. Daneben zeigte sich ebenso, dass das Unterwegs-Sein nicht nur der Raumüberwindung zur Kontaktsuche oder pflege, sondern auch in frommen Kreisen als besonderer Handlungsraum behandelt und reflektiert wurde. Wichtige Impulse gab der Kongress damit nicht allein auf dem Forschungsfeld der Reisepraktiken und literatur, sondern vielfach auch in anderen Bereichen, deren Verschränkung durch nachwirkende Reisen einmal mehr zutage trat. Erfreulich ist darüber hinaus die Einbindung von zahlreichen Nachwuchwissenschaftler:innen als Vortragende in den Sektionen.

Anmerkungen:
1https://www.moravians-at-sea.uni-jena.de/index.html (01.12.2022)
2https://www.gw.uni-jena.de/edition-reisetagebuch (01.12.2022)